Verantwortung

Noch zwei Stunden bis zur Schlacht. Zwei Stunden, die für einen Soldaten eine Ewigkeit bedeuten und doch nicht lang genug sein können. Vor wenigen Minuten war ihnen mitgeteilt worden, dass gleich die Offensive starten würde. Auf der anderen Seite kauern die Soldaten wahrscheinlich genauso nervös in ihren Unterkünften, wie er hier gerade auf die Entscheidung wartet. In zwei Stunden würde er vielleicht sterben oder noch einmal davongekommen sein, um dann bei der nächsten Gelegenheit zu sterben. Wie sollte er diese zwei Stunden nutzen? Die meisten Soldaten schreiben Briefe an ihre Frauen, Kinder oder Mütter, doch das wollte er nicht. Zu oft schon hat er ihnen seinen wahrscheinlichen Tod gemeldet und immer wieder hat es Wochen gedauert, bis er wieder ein Lebenszeichen übermitteln konnte und außerdem hat er dieses Spiel satt. Eine Schlacht folgt der nächsten, die getöteten Soldaten werden wie Maschinenteile ersetzt und die Überlebenden haben nichts als eine Gnadenfrist bekommen - mit immer weiter sinkenden Chancen.

 

Doch wer hat die Schuld? Wer ist verantwortlich für das Grauen, den Tod? Wer schickt ihn in die Schlacht, die ja doch nichts ändert, außer dass wieder eine Menge Menschen den Tod gefunden haben. Die Antwort ist klar: seine Vorgesetzten. Wenn sie ihn nicht eingezogen hätten, wenn sie nicht jedes Mal eine neue Schlacht anfingen, wäre er immer noch oder wenigstens schon wieder zuhause, wären viele seiner Kameraden noch am Leben.

 

Noch zwei Stunden bis zur Schlacht. Seine Jungs, die gleich in die Schlacht stürmen werden, wie das Vieh zur Schlachtbank trottet, nennen ihn ihren Vorgesetzten. Doch sein einziges Vorrecht ist, dass er nicht in der Schlacht sterben, sondern das Grauen weiter erleben wird. Wieder wird er nach dem Donnern der Kanonen Bilanz ziehen müssen, wird er feststellen müssen, dass die Anzahl der bekannten Gesichter in seiner Kompanie kleiner geworden ist, die Anzahl der neuen Gesichter größer wird und der Altersdurchschnitt seiner Männer immer weiter sinkt. Einige Zeit später wird dann eine neue Ladung Soldaten gebracht, die eigentlich noch keine Soldaten sind. Sie sind vielmehr Kinder, die nicht wissen was Tod, was Sterben bedeutet. Aber wenigstens das werden sie hier lernen. Sie werden sehen, dass ihr wohlbehütetes Leben nicht auch nur ein Bruchteil dessen Wert ist, was sie die Fürsorge ihrer Mutter vermuten ließ. Er sieht sie vor sich, wie sie tot daliegen, mit aufgerissenen Augen, als starrten sie ihn an, als fragten sie ihn, warum er sie in den Tod geschickt habe und er wird sich abwenden. Von ihnen wird dann in seinem Bericht nicht die Rede sein. Dort wird er nur über taktische Belange, über Materialverluste schreiben. Die Toten tauchen nur in den Statistiken und in seiner Forderung nach Ersatz auf. Auch die Frage nach dem Warum, wird er nie stellen dürfen, sie würde ja doch nicht beantwortet. Die Regierung wird die gesammelten Berichte durcharbeiten, entscheiden wann und wo die nächste Schlacht stattfindet, wie lange die Kinder noch geopfert werden und was das Leben eines Menschen wert ist. Solange so eine Regierung an der Macht ist, wird ihr Leben nichts wert sein, denn die Regierung ist Schuld an all diesen Grausamkeiten.

 

Wieder einmal hat er sie hinter sich, die Versammlung mit den Oberkommandierenden. Immer wenn er den Raum betrat, wurden sie still, wie die Kinder, die ihre gestrenge Lehrerin erblicken und doch wenn er ihnen in die Augen schaute, sah er diesen Blick, als seien die Toten ihre Kinder und seine Opfer. Er verfluchte seinen Posten als Kriegsminister ein ums andere Mal. Aufmerksam lauschte er den Berichten, den Zahlen, sah die Bilder von der Front und hinter all diesen trockenen Fakten blitzte die Grausamkeit auf, die der Krieg mit sich brachte, wusste er, dass sich abertausende von Toten dahinter versteckten. Die Kriegsberichterstatter sagten einfach nur ein Wort: „Rückzug“ und dieses einfache Wort war für viele das letzte, bedeutete den Tod seiner Mitbürger, die gehofft hatten, Weihnachten vielleicht mit ihrer Frau und ihren Kindern zu verbringen, doch jetzt waren sie nur noch ein winzig kleiner Teil einer Zahl, einer Zahl die morgen schon wieder vergessen war, denn morgen würde es wieder Tote geben und niemand hatte die Kraft um alle Toten zu trauern.

 

Immer wieder stellte er sich die Frage der Schuld. In den Augen der meisten war diese Frage schon längst geklärt, er war schuldig. Vielleicht teilte er sie sich noch mit dem Rest der Regierung oder sogar mit der Regierung des Feindes, aber dadurch wurde sie nicht kleiner. Diese Schuld ließ sich nicht teilen, sie lastete komplett auf den Schultern eines jeden Schuldigen. Mit jedem Blick, jeder Grimasse zeigte man ihm, dass er es war, der den Tod ins Land geholt hatte. Doch er selbst wusste es besser. Er war nur ein Produkt seiner Welt, wenn er nicht wäre, hätte ein anderer die Soldaten in den Tod geschickt und dieser wäre vielleicht sogar noch grausamer gewesen, hätte nicht so viel Rücksicht genommen. Doch das Grauen ist da, es ist von Anfang an in diese Welt eingebaut. Schon als die ersten Meere, die ersten Berge entstanden, stand es fest, auf und in ihnen würde gefressen, getötet, sie würden ein einziger Friedhof sein. Wie konnte man ihm die Schuld dafür in die Schuhe schieben? Es gab nur einen schuldigen und das ist Gott, nach seinem Plan entstand diese Welt und nach seinem Plan läuft dieses Morden.

 

Mit Entsetzen beobachtet Gott das Treiben auf der Erde, sieht die Toten und all das Leiden. Gerade tobt wieder eine Schlacht und er weiß, dass keine der Parteien gewinnen wird, die paar Kilometer Bodengewinn, den sich beide erhoffen, werden sie nicht bekommen und einen wirklichen Sieger gibt es in solchen Kriegen sowieso nie. Doch nicht nur die Grausamkeit, die Sinnlosigkeit und die vielen Toten stören ihn an diesem Treiben, sondern auch dass der Mensch ihm die Schuld in die Schuhe schieben will. Als hätte er zu den Menschen gesagt, sie sollten mit dem Schwert oder Gewehr ihre Brüder töten ... nein, das hat er nie gesagt und er würde es auch nie sagen. Natürlich ist es seine Welt, eine Welt nach seinen Regeln und mit seinen Bedingungen, doch welche Wahl hat er denn gehabt? Die Regeln einer solchen Welt, wenn sie denn erfolgreich sein sollte, stehen doch schon von vornherein fest: „Fressen und gefressen werden“ oder wie der Mensch das ansonsten noch nennen mag. Dabei hatte er doch versucht seinen Menschen die Sache einfach zu machen. Er schickte ihnen Boten und Propheten, erzählte ihnen von der Liebe zueinander und seiner Liebe für sie. Doch der Mensch hat all seine Angebote ausgeschlagen, all seine Ratschläge vergessen. Er schafft sich seine eigene Welt mit Mord, Tod und all den Grausamkeiten, die auch gerade jetzt wieder überall auf der Welt stattfinden. Nein, er würde sich nicht mehr aufregen. Wenn jemand seinen Namen ruft, wird er sich abwenden und vielleicht wird der Mensch sich auch selber richten.

 

Denn trotz aller Hilfen und Ratschläge steht eines fest:

Der Mensch ist sein eigenes Schicksal!

 

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