spinnen

Jeden Tag wischte ihre Mutter durch alle Ecken und Winkel des Hauses, damit sich ja nirgendwo eine Spinne einnistete. Jeden Tag begann die Jagd aufs neue und die kleine Tochter war immer fasziniert von den Anstrengungen, die ihre Mutter wegen dieser Tiere auf sich nahm.

 

Doch eines Abends, sie hatte sich gerade ins Bett gelegt, sah sie etwas. Oben links in der Ecke, genau an der Stelle auf die sie vom Bett aus schauen musste, war ein dunkler Fleck. Sie versuchte, ihn genauer zu fixieren, doch im fahlen Licht des Mondscheines konnte sie kaum mehr als einen Schatten erkennen. Sie lag ganz still, traute sich nicht, sich zu bewegen. Dort oben saß etwas: schwarz, dunkel und irgendwie bedrohlich. Sie schaute noch einmal genauer und sie sah, dass es ein kleines Tier sein musste, sie sah eine Unzahl von Beinen aus dem Körper herausragen. Wie viele waren es? Zwei, vier, sechs und acht. Ja wirklich, es musste eine Spinne sein. Wie hatte sie sich einschleichen können, was hatte sie vor? Langsam schnürte ihr die Angst die Kehle zu. Flüsternd rief sie nach ihrer Mutter, doch der Ruf war zu leise - keine Antwort. Aber sie konnte nicht lauter rufen, sie wollte der Spinne nicht verraten, dass sie hier unten lag. Wie gebannt starrte sie auf das kleine, schwarze Geschöpf. Wenn sie es hätte wegwünschen können, hätte sie es auf der Stelle getan, aber so starrte sie nur darauf. Lange Zeit lag sie da, den Blick starr nach oben gerichtet und nur ganz leise atmend. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann muss sie dann aber doch noch eingeschlafen sein, denn als sie am nächsten Morgen aufwachte, im hellen Morgenlicht umherschaute, war die Ecke leer. Erst langsam dämmerte ihr das Erlebnis der letzten Nacht, da war etwas gewesen - genau, die Spinne, aber in der Ecke war keine Spinne, wo war sie dann? Erschreckt sprang sie aus dem Bett, direkt ins Badezimmer und duschte sich erst einmal gründlich.

 

An diesem Morgen überwachte sie persönlich, wie ihre Mutter durch alle Ecken und Winkel ihres Zimmers wischte, doch nirgends war die Spinne zu finden, sie musste sich zu gut versteckt haben, aber vielleicht war sie ja auch weg? An diesem Abend wunderten sich die Eltern, warum ihre Tochter so quengelte als sie ins Bett sollte. Das tat sie doch sonst nicht, aber nach einigen Diskussionen siegte dann doch die väterliche Autorität und so ging sie in ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Aber vorher vergewisserte sie sich noch einmal bei eingeschaltetem Licht, ob die Spinne wieder da war, doch nichts. So lag sie in ihrem Bett, fragte sich, ob sie dies alles nur geträumt hatte oder ob da wirklich eine Spinne gewesen war. Sie wurde immer ruhiger und irgendwann schlief sie ein.

 

Mitten in der Nacht wachte sie auf, ziemlich ungewöhnlich denn normalerweise schlief sie wie ein Murmeltier und wachte nicht vor dem Morgengrauen auf. Aber jetzt war sie wach, wieder schimmerte das fahle Mondlicht durch das Fenster hinein und da ... wieder war dieser dunkle Fleck in der Ecke. Erschrocken hielt sie den Atem an, woher kam sie denn, sie musste sich während Mutters Wischerei irgendwo verborgen haben, als ob sie gewusst hätte, dass Mutter kommen würde. Sie starrte auf die Spinne, die regungslos in der Ecke hing. Was machte sie da? Warum bewegte sie sich nicht? Worauf wartete sie, vielleicht dass sie einschlief? Die Vorstellung, dass die Spinne auf ihrem schlafenden Körper herumlief, ließ sie zusammenzucken und trieb Angstschweiß auf ihre Stirn. Heute würde sie nicht einschlafen. Sie würde die ganze Nacht aufpassen und wenn die Spinne wieder in ihr Versteck läuft, wüsste sie, wo sie suchen müsste und Mutter würde der ganzen Sache ein Ende bereiten. Da lag sie nun, beobachtete die Spinne und diese beobachtete wahrscheinlich auch sie. Sie atmete nur ganz schwach und leise ein und wieder aus, ein und wieder aus. Während sie in die Ecke starrte, kam ihr ein fürchterlicher Gedanke, was würde sie machen, wenn die Spinne zu ihr herunterkäme? Erschreckt wickelte sie sich noch mehr in die Decke ein, ließ nirgendwo ein Loch, durch das die Spinne zu ihr hereinkommen würde. Nur ihr Kopf schaute noch heraus, immer genau auf die Decke und den dunklen Fleck mit den acht Beinen.

 

Völlig ermüdet wacht sie auf. Hatte sie etwas geschlafen? Sie wollte doch ... ein Blick an die Decke ... nichts. Die Spinne war wieder weg, wie weggewünscht. Wie hatte sie nur einschlafen können? Schnell sprang sie aus dem Bett und legte sich zu ihren Eltern. Dort schlief sie noch ein paar Stunden und als sie aufwachte, hatte ihre Mutter schon den allmorgendlichen Rundgang hinter sich. Doch der sollte heute nicht reichen. Sie flehte ihre Mutter an, dass sie diesmal wirklich alle Ecken sauber machte. Also zogen sie das Bett aus der Ecke, räumten das Spielzeug und die Puppen aus den Ecken und Schränken und als abends Vater nach Hause kam, zogen sie sogar den Schrank aus der Ecke, in der er schon immer gestanden hatte. Bei all diesen Aktionen, kam viel Staub zum Vorschein, aber sonst auch nichts. Keine schwarze Spinne und kein dunkler Fleck mit acht Beinen. Als sie dann abends im Bett lag, war die Ecke immer noch leer. Doch dieses Mal würde sie nicht einschlafen, sie würde aufpassen, woher die Spinne käme. In regelmäßigen Abständen hörte sie das Läuten der Kirchturmuhr. Stunde um Stunde verging, doch die Spinne kam nicht wieder. Irgendwann war Mitternacht und sie schlief wieder ein. Zwar wälzte sie sich unruhig in ihrem Bett hin und her, träumte von irgendwelchen dunklen Monstern in dunklen Zimmern, aber wenn sie verschwitzt aufwachte, schaute sie in die Ecke und sie war leer. Am Morgen wachte sie völlig übermüdet auf, aber die Spinne war nicht wieder aufgetaucht.

 

Heute ist sie sich nicht mehr sicher, ob damals wirklich eine Spinne dort oben in ihrem Zimmer gesessen hat, aber sie will ihrer Tochter diese Angst unbedingt ersparen und so viel Arbeit ist es ja auch nicht, jeden Tag durch alle Ecken und Winkel zu wischen ...

 © 1993 Bodo Thevissen – Vervielfältigung nur mit schriftlicher Erlaubnis des Autors gestattet