Sohn meines Vaters

„Wer sind Sie eigentlich?“, diese Frage wäre sehr plump und leicht zu beantworten, wenn nicht dieses einfache Wort am Ende gewesen wäre. ‚Eigentlich’, was soll das heißen? Ich glaube, er will nicht nur meinen Namen wissen, denn dann hätte er den Satz früher beendet, sondern hier ist mehr gefragt, irgendetwas Wichtiges. Tja, aber wer bin ich denn nun wirklich? Ich bin eine ganze Menge, ich bin zum Beispiel schüchtern, aber das ist ja nicht alles, sonst hätte er gefragt, was ich wäre. Da ist noch mehr. Ich bin ja nicht eine Eigenschaft, sondern eine Person und die besteht aus mehr als nur Schüchtern­­heit. Ab und zu bin ich einsam ... manchmal auch glücklich. Nicht sonderlich fleißig, aber das gleiche ich hoffentlich durch andere Qualitäten aus, zum Beispiel durch Einfallsreichtum. Ja, davon habe ich wirklich genug. Männlich bin ich, aber das sieht ja nun wirklich jeder auf den ersten Blick. Aber dafür könnte man das wahrscheinlich falsch verstehen, denn mit männlich meine ich mehr, dass ich der Sohn meines Vaters bin und weniger, dass ich ein Quell sprudelnder Männlichkeit wäre.

 

Eigentlich trifft obiges es ganz gut. Nein, nicht diese riesige Aufzählung, sondern ‚Sohn meines Vaters’. Die ganze Beschreibung könnte genauso gut die meines Vaters sein. Nicht dass ich mein Leben lang versucht hätte, ihm nachzueifern. Nein, eher habe ich versucht alles anders zu tun als er es wohl täte. Aber meist versandete diese Absicht und im Nachhinein bin ich dann wohl eher nur der ‚Sohn meines Vaters’. Wie könnte ich kürzer all meine Eigenschaften aufzählen?

 

Was hätte wohl mein Vater auf diese Frage geantwortet? Das gleiche? Ist auch er nur des Sohn seines Vaters. Das Bild meines Großvaters ist recht verschwommen und stark geprägt von der Sichtweise meiner Kindheit, aber immer waren Vater und Großvater für mich eine Einheit. Beide vertraten die gleichen Ansichten und irgendwie war er einfach der Sohn. Beide waren sehr sparsam, nicht sehr wortreich, nicht sehr überschwänglich in ihren Gefühlen, sich eben einfach ähnlich. Ja, mein Vater hätte auch gesagt: „Ich bin der Sohn meines Vaters.“ Und mein Großvater? Ähnelte auch er seinem Vater? War auch er ein Ebenbild seines Erzeugers? Eine Frage die ich wohl nicht mehr klären können werde, denn ich wüsste niemanden mehr, der darauf eine Antwort wissen könnte, aber irgendwie bin ich mir dessen sicher, scheint sich dies doch wie eine Kette durch die Familie zu ziehen. Damit wäre ich natürlich nicht einfach mehr nur der Sohn meines Vaters, sondern auch der Enkel meines Großvaters usw. Aber das führt mich wohl nirgendwohin.

 

Wenn ich also nun wissen wollte, wer ich bin, müsste ich einfach irgendeine Gemein­samkeit finden, irgendetwas, das alles und uns alle zusammenfasst. Nach einem kurzen Augenblick, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt, antworte ich dann: „Ein Mensch“

 

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