Neuer Traum

Still dämmere ich vor mich hin. Noch bin ich nicht eingeschlafen, aber auch nicht mehr wach. Es ist als wehrte ich mich gegen den Schlaf, der den heutigen Tag beenden würde. Nicht dass ich nicht müde wäre, mir sind schon längst die Augen zugefallen. Aber immer wenn ich die Kontrolle über meine Gedanken verliere, wenn ich drohe einzuschlafen, klammere ich mich an den letzten Gedanken, der mich verfolgt und den ich wahrscheinlich heute Abend schon ein Dutzend Mal gedacht habe. In dem Augenblick in dem ich mich nur noch fallen lassen müsste, in dem ich einfach nur Vertrauen bräuchte, am nächsten Morgen wieder frisch und erholt aufzuwachen, bäumt sich tief in mir die Angst auf. Aber die Angst vor was? Ich weiß es nicht. Auch dieser Gedanke, ist vielleicht nichts anderes als nur der Versuch nicht einzuschlafen, aber ich weiß es nicht, meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich denke und denke und erfahre doch nichts neues; ich sehne den Schlaf herbei und flüchte doch vor ihm.

 

Ich verabscheue meine Angst, am liebsten würde ich ... oder würde ich lieber doch nicht? Wieder dieselben Gedanken wie vor zehn Minuten, wie gestern und wahrscheinlich auch wie vor einem Jahr. Ich hasse diese Gedanken, sie verfolgen mich, und eigentlich fürchte ich sie noch mehr als den Schlaf, aber sie hängen einfach zusammen: Bevor ich schlafe, kämpfe ich mit dem Schlaf und mit mir selbst - diese Gedanken sind mein Schlachtfeld. Ich weiß nicht, ob ich diesen Kampf je gewonnen habe oder ihn überhaupt gewinnen kann, ich glaube aber nicht. Ich verliere ihn ein ums andere Mal und obwohl ich Angst habe ihn zu verlieren, bin ich doch am nächsten Morgen froh, schließlich eingeschlafen zu sein, aber an diesem nächsten Morgen weiß ich dann allerdings auch, dass ich wieder aufgewacht bin.

 

Plötzlich fühle ich, wie ich leichter werde, ich frage mich noch, ob dies wohl das Zeichen dafür ist, dass ich endlich eingeschlafen bin, doch das ändert nichts daran, dass ich immer leichter werde, als wäre ich eine Feder, die in der Luft schwebt und von ihr getragen wird. Ich sehe die Decke über mir und wundere mich, weil ich die Augen geschlossen habe und ich bemerke, wie die Decke mir immer näher kommt, obwohl ich noch die Matratze unter mir fühle. Hilflos überlasse ich mich der Verwirrung, die vollkommen Besitz von mir ergriffen hat. Die Decke nähert sich mir immer weiter und mit aller Kraft drehe ich mich von ihr weg und schaue nach unten. Dort sehe ich mich selbst auf meinem Bett liegen, die Augen geschlossen und ruhig atmend. Erschreckt frage ich mich, wer oder was ich eigentlich bin, denn schließlich sehe ich meinen Körper, mit dem ich mich immer identifiziert habe, unter mir. Doch wie von selbst wende ich mich von der Hülle in meinem Bett ab, sie ist nicht weiter von Interesse. Wie eine Wolke schwebe ich zum Fenster und entkomme dem Raum durch den geöffneten Spalt. Ich sehe nach unten auf die erleuchtete Straße und wieder frage ich mich, was denn diese Welt ist, zu der ich immer gehört habe und fühle mich entfremdet von ihr, als gehöre sie nicht mehr zu mir und ich nicht mehr zu ihr. Wiederum wende ich mich ab und schaue direkt nach oben. Ich sehe ein Sternenmeer, das mir einladend entgegenleuchtet. Eine unermessliche Anzahl Sterne, glitzernd und funkelnd – wie eine alte, verlorene Heimat.

 

Magisch ziehen mich diese Lichter; ich schwebe ihnen entgegen und die Stadt bleibt unter mir zurück. Wie gebannt starre ich auf die Sterne, die sich mir immer weiter nähern und fühle, wie ich die alte Welt verlasse, von ihr befreit bin. Immer weiter schwebe ich und obwohl ich diesen Anblick Ewigkeiten genieße, fühle ich mich doch, als hätte meine Reise gerade erst begonnen. Um mich herum sind nichts als die Sterne, die mich leuchtend zu sich einladen. Die Erde ist inzwischen aus meinem Blickfeld entschwunden und die Sonne ist nur noch ein Stern unter vielen, der eher schwach vor sich hin glimmt. Doch meine Gedanken an meine alte Heimat behindern mich nur, halten mich davon ab, immer weiter vorzustoßen. Ich schüttle sie ab und immer schneller schwebe ich durch das Sternenmeer und immer mehr werde ich ein Teil von ihm. Immer neue Sterne tauchen vor mir auf und andere verblassen hinter mir. Das was ich jetzt um mich herum sehe und fühle, hat nichts mehr mit dem zu tun, was ich jemals zuvor gesehen und gefühlt habe. Eigentlich habe ich noch nie zuvor etwas in solcher Intensität erlebt oder gar gefühlt. Alles bisherige erscheint mir nur wie ein schmieriger Kitschroman, nur dazu geschaffen, vom wahren Leben abzulenken.

 

Doch dann bemerke ich, dass vor mir nichts mehr ist, kein Licht, keine Sterne. Ich frage mich was dies zu bedeuten hat, als ich auch schon die letzten Sterne hinter mir lasse. Ich fühle wie ich etwas durchstoße und dann – sehe ich nichts mehr. Einen kurzen Augenblick wurde ich von einem alldurchdringenden Aufblitzen und einem gleißenden Licht geblendet, woraufhin ich mich vollkommen nach außen hin abschotte. Von diesem kurzen Augenblick des Leuchtens bin ich völlig überwältigt. Immer noch sind alle meine Sinne in mich selbst hinein gerichtet, um ja nichts von dem grellen Licht um mich herum wahrnehmen zu müssen. Langsam weicht die Betäubung von mir und das erste was ich wieder wahrnehme sind Stimmen. Nicht eine Stimme, nicht viele Stimmen, einfach wahnsinnig viele Stimmen - eine Art kosmisches Gemurmel. Einige sind ganz weit weg, andere ganz nah und wenn es ein Wort dafür gäbe, würde ich sagen, dass meine Ohren von all diesen Stimmen geblendet wären. Vorsichtig versuche ich mich auf eine der Stimmen zu konzentrieren und langsam nimmt der allgemeine Geräuschpegel ab.

 

Jetzt verstehe ich die Stimme und höre wie sie zu mir sagt: "Schön dass du doch noch zu uns gekommen bist, wir haben lange auf dich gewartet. Ich wusste schon immer, dass du irgendwann den Weg in die Freiheit finden würdest. Jetzt bist du ihn gegangen und du kannst ihn immer wieder gehen. Du musst nur wollen, das Tor steht dir offen." Die Stimme verstummt und ich ziehe mich wieder in mich hinein zurück. Ich kann dieser Person, von der ich nur die Stimme kenne, nicht antworten. Wer ist sie? Was will sie von mir? Warum bin ich hier? All diese Fragen quälen mich und keine davon könnte ich auch nur ansatzweise beantworten. Ich komme mir vor, als hätte ich mich verirrt, als wäre ich in einer Welt, deren Teil ich nicht bin. Wieder prasseln die Stimmen auf mich ein und ich fühle mich, als würden alle auf mich einreden, mich anstarren und ich fühle mich nackt. Blind und wehrlos in dieser fremden Welt überkommt mich Panik. Ich frage mich, ob ich verrückt bin und in all meiner Furcht kenne ich nur noch einen Wunsch: Wieder zuhause zu sein.

 

Ich spüre wie ich mich wieder bewege und schon befinde ich mich wieder inmitten der Sterne. Ich sehe sie nur an mir vorbeizischen und nähere ich mich einem Stern und einem seiner Planeten. Ich durchstoße die Wolkenschicht, rase durch einen Fensterschlitz und da liege ich wieder. Vorsichtig versuche ich, meine Finger zu bewegen und alles scheint normal. Ich springe auf, renne ins Badezimmer und als der Schock des gleißenden Lichts vorbei ist, erkenne ich mich selbst im Spiegel als wäre nicht passiert. Ich frage mich, ob ich geträumt habe. Doch der übermächtige Eindruck des Erlebten erstickt jeden Zweifel im Keim. Das, woran ich mich erinnere, ist real, es ist wirklich so passiert, wie ich es noch vor mir sehe, wenn ich mir auch nicht erklären kann, wie es passieren konnte. Immer noch innerlich aufgewühlt lege ich mich wieder ins Bett, doch ich kann keinen Schlaf finden, zu sehr bin ich noch von der Angst und Panik gefangen, die mich in dieser fremden Welt erfasst hat.

 

Als ich am nächsten Morgen aufstehe, ist das ganze Erlebnis schon wieder etwas verblasst und ich überlege, ob dies nicht doch alles nur ein Traum war. Sicherheitshalber gehe ich noch direkt zum Arzt, der mir ein paar Pillen verschreibt, die ich vor dem Schlafengehen einnehmen solle. Anschließend gehe ich zur Arbeit und als ich dann abends erschöpft ins Bett gehe, schlucke ich vorher die Pille. Schnell spüre ich die Müdigkeit, die in mir aufsteigt und erleichtert versinke ich in einen tiefen, dunklen, traumlosen und sicheren Schlaf ...

 

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