Die Veränderung

 

Mein Arbeitstag ist endlich zu Ende und ich bewege mich inmitten einer endlosen Autoschlange Richtung meiner Wohnung. Die Häuser ziehen an mir vorbei, hinter den Fenstern sitzen Menschen, die sich nichts zu sagen haben. So wie mich die grauen Fassaden der Häuser anöden, so langweilen sich auch die Menschenmassen in dieser Stadt gegenseitig.

 

Ich fahre immer weiter, den Weg, den ich schon so oft gefahren bin und der sich von Mal zu Mal immer tiefer in meine Seele einbrennt. Ich sehe Menschen auf dem Weg nach Hause. Einer grauer als der andere, alle auf dem Weg, aber ohne Ziel und ohne Hoffnung je eines zu finden. So wie der Dreck die Farben dieser Stadt überdeckt, so überlagert die Eintönigkeit alles Erinnerungswürdige. Die Vergangenheit wird zu einem Strom grauen Schleims, der unaufhörlich jegliche Erinnerung auslöscht und mir in die Zukunft vorauseilt.

 

Den Blick starr nach vorne gerichtet, ergebe ich mich der Monotonie des Verkehrs. Doch völlig überraschend sehe ich inmitten der grauen Fassaden etwas in der Ferne leuchten. Ich wundere mich, denn mir ist hier noch nie etwas derartiges aufgefallen. Ich fahre weiter und je näher ich komme, desto mehr erkenne ich dessen Form. Ich entdecke, dass es sich bewegt und dann stelle ich fest, dass es ein Mensch ist. Aber kein gewöhnlicher Mensch, sondern er ist in bunte Kleidung gehüllt und nicht umwoben von dem allgegenwärtigen Grau. Inzwischen bin ich auf gleicher Höhe mit der Person, die wie ein Pfau leuchtet. Doch ich scheine der einzige zu sein, der auf sie achtet. Die anderen sind immer noch in ihren Trott versunken, vielleicht mit der Angst, aus der Trance zu erwachen, die sie davon abhält, über die Sinnlosigkeit ihres Seins nachzudenken. Der Strom der Autos zieht mich fort von hier und schon bald ist die bunte Gestalt nichts als eine Erinnerung.

 

Doch die Erinnerung lässt mich auch die nächsten Tage nicht los und ich suche täglich an dieser Stelle nach diesem Phänomen. Doch das nächste nennenswerte Ereignis erlebe ich dieses Mal auf dem Hinweg. Ich sitze im Auto, bereit einem weiteren langweiligen Tag ins Antlitz zu schauen und wie immer sieht es aus, als ob mein Pessimismus angebracht sei, doch wieder fällt mir etwas in dieser tristen Umgebung auf. Wieder glaube ich etwas leuchtend Helles vor mir zu sehen. Unaufhaltsam nähere ich mich der Stelle, aber dieses Mal ist es nicht, wie ich gehofft habe die Person vom letzten Mal, sondern ich sehe ein Haus, ein Haus wie jedes andere, wenn es nicht so unglaublich bunt wäre. Es leuchtet in allen Regenbogenfarben und ich frage mich, wieso ich es vorher noch nie gesehen habe und wieso die anderen an diesem erfrischenden Anblick einfach so vorbeiziehen. Verzweifelt versuche ich am Rand der Straße anzuhalten und erst nach einer größeren Wegstrecke gelingt es mir, mein Auto abzustellen. Fröhlich mache ich mich auf den Rückweg zu diesem ungewöhnlichen Haus und seiner sonderbaren Fassade. Dort angekommen, stelle ich fest, dass nichts darauf hindeutet, dass es frisch gestrichen wurde. Eine Zeitlang überlege ich, was ich tun solle, als jemand geradewegs auf die Tür zusteuert. Er kramt einen Schlüssel heraus und bemerkt erst dann, dass ich ihn anstarre. Ich sehe ihm einen Augenblick in die Augen und als ich sehe, dass er den gleichen leeren Blick hat, wie alle anderen, schaue ich peinlich berührt weg. Dieser Mann passt überhaupt nicht zu diesem Haus und ich frage mich, ob er überhaupt von dessen Schönheit weiß. Froh über meine neuerliche Entdeckung, aber auch enttäuscht über die scheinbare Ahnungslosigkeit der anderen Menschen, kehre ich zu meinem Auto zurück.

 

Als ich gegen Abend wieder an dem Haus vorbeikomme, bin ich beruhigt, dass es immer noch genauso bunt aussieht, wie am Morgen und es nicht nur ein Trugbild meiner Phantasie war. Zuhause angekommen lasse ich mich in meinen Sessel fallen, um über alles nachzudenken. Während meine Gedanken sich im Kreis drehen, von der bunten Person zum bunten Haus und wieder zurück, starre ich aus dem Fenster. Plötzlich landet ein Vogel vor meinem Fenster und sein fröhlicher Gesang reißt mich aus meinen Gedanken. Etwas verwirrt werfe ich einen Blick auf ihn, blinzle, schließe wieder die Augen und schaue wieder auf den Vogel. Sein Gefieder leuchtet im letzten Sonnenlicht und fasziniert betrachte ich das Farbenspiel der bunten Federn. Vorsichtig stehe ich auf, um mir den Vogel näher anzuschauen, doch zu meiner Enttäuschung fliegt er sofort davon. Trotzdem lässt mir der Gedanke keine Ruhe, dass der Vogel extra zu mir gekommen ist. „Warum?“, das weiß ich nicht, aber dass es so ist, da bin ich mir sicher. Ich gehe zum Fenster, öffne es und lasse meinen Blick umherschweifen, doch nirgends ein Zeichen von einem bunten Vogel. Die einzigen Vögel in unserem Häuserblock fallen vor den dunklen dreckigen Häusern nicht auf, da sie deren Eintönigkeit teilen.

 

In der Nacht träume ich von dem Vogel, dass er am Fußende meines Bettes sitzt und ein Lied für mich singt und als ich aufwache, bin ich ausgesprochen guter Laune. Als ich auf dem Weg zur Arbeit an dem bunten Haus vorbeikomme, lächle ich still in mich hinein, vor Freude darüber, dass gerade mir diese Veränderung aufgefallen ist. Auf der Fahrt zur Arbeit fallen mir noch mehr bunte Häuser auf, die ich bisher übersehen haben muss. Zwischen dem Strom der Fußgänger sehe ich zwei oder drei der buntgescheckten Menschen, aber das kann mich heute nicht aus der Ruhe bringen. Einmal gelingt es mir sogar ein buntes Auto zu finden, das vor mir die Kreuzung überquert. Erst als ich auf der Arbeit einen bunten Stift in meinem Schreibtisch vorfinde, stutze ich etwas, weil ich mir hundertprozentig sicher bin, dass er gestern noch nicht da gewesen sei. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich gedankenverloren auf den Stift starre und überlege, wie er wohl hierher kam. Für einen Augenblick denke ich schon an einen Scherz meiner Kollegen, aber woher sollten die von meiner ungeheuerlichen Entdeckung wissen? Ich beschließe in der Pause zu testen, ob meinen Kollegen die Veränderung an dem Stift auffällt und ich spiele gut sichtbar mit diesem herum, doch ich ernte noch nicht einmal neugierige Blicke, wie sie bei so einer Besonderheit eigentlich selbstverständlich sein sollten.

 

Etwas verwirrt bringe ich auch die letzten Arbeitsstunden noch hinter mich und schaffe es sogar, mir die gute Laune zu erhalten. Als ich dann am Abend Fernsehen schaue, sehe ich eines der bunten Häuser in den Nachrichten, allerdings ist darin nicht die Rede von dessen außergewöhnlicher Färbung, sondern von irgendeiner „Nebensächlichkeit“. Die Farbe scheint niemandem aufzufallen. Wieder mache ich mir alle möglichen Gedanken über die Herkunft dieser Veränderungen und die Tatsache, dass sie anscheinend von niemandem außer mir bemerkt werden. Doch irgendwie stimmt mich dies noch fröhlicher, als ich sowieso schon bin. Mit jedem Tag werden die Änderungen immer auffälliger und immer häufiger. Schon bald ist mein gesamter Arbeitsweg ein einziger Regenbogen, die Gärten hinter meinem Haus ein Blumenmeer und der Bürgersteig ein Laufsteg für gutgekleidete Modells. Als ich probeweise einmal so durch die Stadt fahre, stelle ich fest, dass sich sie die Veränderungen nicht nur auf meine Umgebung beschränken, sondern anscheinend überall um sich greifen. Sogar die Menschen sind freundlicher geworden. Die Begegnungen im Lift haben nicht mehr diesen „High Noon-Charakter“, sondern meist ergibt sich ein Lächeln und ein freundlicher Gruß.

 

Doch obwohl ich die Veränderungen begrüße und genieße, so ist doch mein Erstaunen um diese Tatsache nicht geringer geworden. Wieder sitze ich in meinem Sessel und versuche die Ursachen für dieses neue Lebensgefühl und all die Pracht um mich herum zu ergründen, als es mich von meinem Sessel fortzieht. Etwas verwirrt folge ich dem Drang, der mich aus dem Zimmer lockt. Nach einigen weiteren Schritten finde ich mich vor dem Spiegel wieder und als ich mir in die leuchtenden Augen schaue, verstehe ich alles: die Veränderung liegt nicht darin, was ich sehe, sondern wie ich es sehe!

 

© 1993 Bodo Thevissen – Vervielfältigung nur mit schriftlicher Erlaubnis des Autors gestattet