Das Zuhause

Lore sitzt in ihrem Zimmer. Sie schaut sich um und sieht all die vertrauten Dinge, die um sie herumstehen. Sie fühlt sich zuhause. Sie genießt es ein Zuhause zu haben, denn sie hat nie eines besessen. Für einen Augenblick besinnt sie sich ihrer Kindheit, als sie mit ihrer Mutter aus dem Haus gejagt wurde. Sie hat es nie ein Zuhause vermisst – nie auch nur daran gedacht. Später, als sie dann älter war, zog sie umher, von einer Stadt zur anderen, von einem Mann zum anderen.

 

Jetzt aber ist sie endlich glücklich; sie ist Zuhause. Sie erinnert sich all ihrer Abschiede, die sie durchlebte. Es war ihr nie bewusst, dass sie auch einen Ort verließ, wenn sie sich von jemandem trennte. Erst jetzt weiß sie, was es bedeutet zuhause zu sein. Sie lebt allein in ihrem Raum und ist froh darüber. Niemand kann sie vergraulen, niemand will mit ihr streiten. Sie hofft nur, für immer hier bleiben zu können. Wenn sie jemand fragen würde, ob sie einsam sei, sie würde nur fragend mit dem Kopf schütteln. Sie kennt keine Einsamkeit. Sie ist froh hier sitzen zu dürfen, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. Ihre Nachbarn haben schnell erkannt, dass sie allein sein will und sie respektieren diesen Wunsch. So ist sie glücklicher als je zuvor, wenn sie es überhaupt je war. Sie fühlt sich geborgen in diesem Raum, weil sie draußen niemanden hat, der sie leiten und schützen würde. Draußen war sie einsam gewesen. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass sich dies je ändern würde.

 

Doch plötzlich wird sie jäh aus ihren Gedanken herausgerissen, ein heftiges Klopfen an der Tür zerreißt den Schleier der Stille, der sich sanft um sie gelegt hatte. Ihr wird schlagartig klar, dass dieses energische Klopfen nichts Gutes verheißen kann. Als sie nach abermaligem Klopfen nicht reagiert, öffnet sich vorsichtig die Tür und ein Mann tritt ein. Er beginnt, eine Nachricht herunterzurasseln. Verwundert hört er Lores Entsetzensschrei, während sie in sich zusammensackt. Das hat er nicht erwartet, bisher hat sich noch jede darüber gefreut, wegen guter Führung entlassen zu werden.

 

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