Aus der Dunkelheit

Mit einem Mal erwachte der Samen zum Leben. Tief unter der Oberfläche begann er Wasser zu sammeln, um sich irgendwann in ferner Zukunft in eine schöne Blume zu verwandeln. Gierig sog er jeden Tropfen in sich auf und der Druck in seinem Innern stieg und stieg. Nach einer langen Wartezeit hatte er genug Feuchtigkeit in sich aufgesogen, um die Hülle, die ihn zuerst beschützte, inzwischen aber gefangen hielt, aufzusprengen. Endlich war er frei, und schon bald würde er sich all dem Leben an der Oberfläche in seiner ganzen Pracht zeigen. Er würde zu einem weiteren Beweis für den Sinn des Lebens werden und seine Schönheit würde jeden Zweifler verstummen lassen, denn was kann einen größeren Sinn haben, als das Leben selbst in all seiner Pracht?

 

Instinktiv wusste er, in welcher Richtung sich die lebensspendende Sonne befand. Er spürte das Pulsieren des Lebens über sich und sehnte den Augenblick herbei, in welchem er der Dunkelheit dieser Unterwelt entkommen und in welchem er damit beginnen würde, lebensspendenden Sauerstoff zu produzieren. Immer weiter strebte er der Oberfläche entgegen und immer größer wurde die Vorfreude auf das wirkliche Leben - nicht dieses einsame Dahinwachsen, wie er es gerade tat - sondern ein Zusammensein und Miteinandersein mit anderen Lebensformen. Jauchzend stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlte, füreinander dazusein und wie es sich anfühlte, wenn sich neues Leben aus der eigenen Existenz und aus dem eigenen Geben heraus entwickeln würde. Dabei dachte er nicht nur an die vielen Samen, die er in einem wilden Orgasmus herausschleudern und die in einer endlosen Kette seine eigene Existenz weiterführen würden, sondern er dachte auch an die Wesen, die sich an seinem Sauerstoff laben, an jene, die sich von seinem Fleisch ernähren und sogar an jene, die sich später von seiner sterbenden Hülle ernähren und durch seinen Tod gestärkt würden.

 

Während er immer weiter dem Licht entgegenwuchs, ergötzte er sich an den Gedanken an diesen ewigen Kreislauf, einen Kreislauf, der jedem Leben einen Sinn gab, egal wie kurz und schmerzvoll es war, egal ob sich das Wesen dieses heiligen Kreislaufes bewusst war und egal ob es nicht vielleicht einfach nur ein Parasit war, der nur für sich selbst lebte. Letztlich würde jedes Wesen seinen Sinn erfüllen.

 

Je länger er wuchs, desto lockerer wurde der Boden, desto mehr Luft umgab ihn und desto bewusster wurde er sich des Lebens, das er finden und welches er bis zur letzten Sekunde genießen würde. Wem hatte er dieses Geschenk des Lebens zu verdanken? Gab es jemanden, dessen Idee dieser Sinn war oder war dieser Sinn einfach nur da und nährte alles andere aus sich heraus? Wie sehr er sich auch an dieser Frage erfreute, so war er sich doch von Anfang an bewusst, dass die Antwort unwichtig war. Egal wie sie lauten würde, sie würde nichts ändern. Nichts könnte gegen die Entfaltung des Lebens sprechen, wie er sie schon bald vollbringen würde. Nichts würde es rechtfertigen, nicht dem Leben entgegenzustreben, sondern es zu meiden oder gar vor ihm zu flüchten. Es gibt keine Alternative zum Leben und zur Erfüllung des Sinnes.

 

Endlich war es soweit! Er durchbrach die Dunkelheit und eine Welle der Wärme und des Lichtes brach über ihm zusammen. Nun war er kein versteckter Samen mehr. Er hatte die wundervolle Verwandlung zur Pflanze vollbracht.

 

Einen Augenblick genoss die Pflanze in sich gekehrt dieses neue Lebensgefühl, dann öffnete sie sich der Außenwelt. Neugierig suchte sie die Wesen, mit denen sie das Leben teilen würde, doch nirgends regte sich etwas, nirgends war etwas Grünes zu sehen. Überall um sie herum war Sand, nichts als heißer, toter Sand. Unerbittlich brannte die Sonne auf den Boden nieder und entzog ihm die Feuchtigkeit. Doch die Pflanze gab nicht auf. Wenn sie erst einmal groß genug wäre, um eine größere Fläche zu überblicken, würde sie schon Leben finden. Entschlossen wuchs sie weiter der unerbittlichen Sonne entgegen. Doch sie fand noch immer kein Leben - niemanden der die Schönheit ihrer Blüte sehen würde, wenn sie all ihre Kraft in diese paar Blätter schicken und sie sich einladend der restlichen Welt öffnen würde. Je weiter sie sich der Sonne entgegenstreckte, desto mehr wurde sie sich der sengenden Hitze bewusst, die anscheinend jegliches Leben verdrängt hatte.

 

Langsam wurde ihr klar, dass sie all ihre Kraft auf die Wurzeln konzentrieren müsse, um die ersehnte Feuchtigkeit aus der Tiefe zu fördern, der sie gerade erst entflohen war. Doch egal wie viel Kraft sie in das Wachstum ihrer Wurzeln investierte, sie fand nicht auch nur eine Winzigkeit des kostbaren Elixiers. Verzweifelt setzte sie schließlich sogar die Kraftreserven ein, die sie eigentlich für ihre herrliche Blüte gesammelt hatte. Aber auch diese Kraft verpuffte und erstarb unter der glühenden Hitze der unbarmherzigen Sonne.

 

Inzwischen hatte sie die letzten Feuchtigkeitsreserven ausgeschöpft und die letzte Hoffnung auf ein Zusammentreffen mit anderem Leben verloren. So starb die Pflanze einen einsamen Tod. Ihre Blätter fielen zu Boden und trockneten aus. Kein Lebewesen kam, um sich an ihrer nahrhaften Hülle zu ergötzen und so ging auch ihr letzter Wunsch nicht in Erfüllung. Irgendwann verließ die letzte Feuchtigkeit den ausgetrockneten Stängel, war die sich bildende Schönheit der Pflanze zu einem grausamen Abbild des Todes geworden. Und auch dieses wurde schon bald durch eine dicke, undurchdringliche Schicht toten Sandes begraben, so dass sie bald wieder im Untergrund versank. Dieses Mal allerdings gab es keine Hoffnung, der Dunkelheit erneut zu entrinnen.

 

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